Frohe Weihnacht allen Bekannten und Verwandten!!!

Viele von Euch, liebe Freunde und Familienmitglieder, kriegen jetzt wahrscheinlich einen Schreck, wenn sie unseren jährlichen Feiertags-Rundschrieb in Händen halten. Ihr habt von der Tragödie, die uns jüngst ereilte, in der Zeitung gelesen und habt bestimmt geglaubt, wenn man plötzlich so viele juristische Sorgen und »Scherereien« hat, steckt der Dunbar-Klan einfach den Kopf in den Sand und schwänzt die gesamten bevorstehenden Weihnachtsfeiertage!!

Ihr sagt: »Wie soll denn die Familie Dunbar ihren schrecklichen Verlust betrauern und die Traditionen der Weihnachtsfeiertage hochhalten. So stark ist keine Familie«, denkt Ihr bei Euch.

Dann denkt lieber noch mal nach!!!!!!!

Zwar hat dies vergangene Jahr beim »Geben« unserer Familie ein schlechtes »Blatt« voll Weh und Ach zugeteilt, aber wir haben (bisher!) das Unwetter überlebt und werden das auch weiterhin so halten! Unser Baum steht im Wohnzimmer wie eine 1, die Strümpfe sind aufgehängt, und wir erwarten ungeduldig die Ankunft eines gewissen wohlbeleibten Herrn, der vorne auf den Namen »Weih« und hinten auf den Namen »Nachtsmann« hört!!!!!!!!!!!!

Unser treuer PC hat schon vor Wochen unsere Wunschzettel ausgedruckt, und jetzt werfen wir ihn wieder an, um Euch und Euren Lieben ganz heftig die Allerfrohesten Weihnachten von der gesamten Familie Dunbar zu wünschen: Clifford, Jocelyn, Kevin, Jacki, Kyle und Que Sanh!!!!!

Einige von Euch lesen dies jetzt wahrscheinlich und kratzen sich beim Namen »Que Sanh« den Kopf. »Der passt doch gar nicht zu den anderen Vornamen in der Familie«, sagt Ihr Euch. »Haben sich diese verrückten Dunbars etwa eine Siamkatze zugelegt?«

Nicht schlecht geraten.

Gestattet uns, denen von Euch, die in einer Höhle hausen und nichts mitgekriegt haben, Que Sanh Dunbar vorzustellen, die, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, das neueste Familienmitglied ist.

Erstaunt?

DAMIT STEHT IHR NICHT ALLEIN!!!!!!!

Es scheint nämlich, als habe Clifford, Gatte der Schreiberin dieser Zeilen und Vater unserer drei natürlichen Kinder, vor zweiundzwanzig Jahren aus Versehen die Saat für Que Sanh während seines kleinen Abstechers nach, na, wohin? gelegt ...? Na, wohin wohl?

VIETNAM!!!!

Das war natürlich Jahre, bevor Clifford und ich geheiratet haben. Als er eingezogen wurde, waren wir vorverlobt, und der lange Zeitraum der Trennung forderte von uns beiden seine Opfer. Ich habe regelmäßig korrespondiert. (Jeden Tag habe ich ihm geschrieben, sogar wenn mir nichts Interessantes einfiel. Seine Briefe kamen sehr viel seltener, aber ich habe alle vier aufbewahrt!)

Während ich sowohl Zeit wie Neigung hatte, meine Gefühle in Briefumschläge zu stecken, kannte Clifford, wie Tausende anderer amerikanischer Soldaten, einen solchen Luxus nicht. Während wir übrigen in unseren sicheren und behaglich eingerichteten Häusern die Abendnachrichten verfolgten, kam er in den Abendnachrichten vor, bis zur Hüfte in einem Schützengraben voll abgestandenem Wasser. Die Risiken und die Qualen des Krieges sind etwas, was die meisten von uns sich glücklicherweise auch nicht in Ansätzen vorstellen können, und da können wir, finde ich, von Glück sagen.

Clifford Dunbar hat, vor zweiundzwanzig Jahren, ein junger Mann in einem vom Krieg zerrissenen Land, einen Fehler gemacht. Einen schrecklichen, verabscheuungswürdigen Fehler. Einen dummen, unüberlegten, permanenten Fehler mit furchtbaren, quälenden Folgen. Aber wer seid Ihr, wer sind wir, dass wir über ihm den Stab brechen? Besonders jetzt, wo Weihnachten unmittelbar bevorsteht. Wer sind wir, dass wir ein Urteil fällen?

Als seine Versetzung um war, kehrte Clifford nach Hause zurück, wo er den zweitschlimmsten Fehler seines Lebens machte (ich beziehe mich auf seine kurze ((acht Monate)) »Ehe« mit Doll Babcock), und danach waren wir wieder vereint. Wir wohnten damals, wie Ihr Euch vielleicht erinnert, in diesem winzigen Apartment drüben in der Halsey Street. Clifford hatte gerade seine ihn ausfüllende Karriere bei der Vereinigten Sampson auf Gegenseitigkeit begonnen, und ich arbeitete Teilzeit in der Buchhaltung von Hershel Beck, als ... auch schon die Kinder kamen!!!!!! Wir haben gekämpft und gespart und uns irgendwann dann (endlich!!) unser Haus am Tiffany Circle gekauft, Nummer 714, wo der Dunbar-Klan bis zum heutigen Tage seinen Nistplatz hat!!!!

Hier war es, Tiffany Circle 714, wo ich zum ersten Mal Que Sanh sah, die zu (wie es das Schicksal wollte) Halloween auf unserer Schwelle stand!!!

Zuerst hielt ich sie für eins dieser HalloweenKinder, die »Gib mir was, sonst setzt es was!« rufen! Sie trug, erinnere ich mich, einen Rock von der Größe eines Bierwärmers, eine kurze Pelzjacke und, im Gesicht, genug Rouge, Lidschatten und Lippenstift, um unser gesamtes Haus anzustreichen, innen wie außen. Sie ist sehr klein, und ich dachte, sie wäre ein Kind. Ein Kind, das sich als Prostituierte verkleidet hat. Ich gab ihr eine Handvoll Schokolade mit Nougats und hoffte, dass sie, wie die anderen Kinder, rasch zum nächsten Haus weiterzieht.

Aber Que Sanh war kein Kind, das »Gib mir was, sonst setzt es was!« ruft.

Ich wollte die Tür wieder schließen, wurde daran aber von ihrem Dolmetscher gehindert, einem sehr feminin aussehenden Mann, der einen Aktenkoffer trug. Er stellte sich auf Englisch vor und sprach dann mit Que Sanh in einer Sprache, die ich inzwischen auf die harte Tour als Vietnamesisch zu identifizieren gelernt habe. Während uns die Sprache aus dem Mund fließt, hört sich die vietnamesische Sprache an, als würde sie dem Sprecher durch eine Serie schwerer und gnadenloser Schläge in die Magengrube abgepresst. Die Wörter als solche sind Schmerzenslaute. Que Sanh antwortete dem Dolmetscher, und ihre Stimme war so hoch und gnadenlos wie eine Autosicherung. Die beiden standen vor meiner Tür, kreischten auf Vietnamesisch drauflos, und ich stand dabei, verängstigt und verwirrt.

Bis zum heutigen Tage bin ich verängstigt und verwirrt. Sehr sogar. Es ist beängstigend, dass ein voll ausgewachsener Bastard (ich verwende das Wort im technischen Sinne) die Meere überqueren und es sich in meinem Haus gemütlich machen kann, und das alles mit dem Segen unserer Regierung. Vor zweiundzwanzig Jahren konnte Onkel Sam die Vietnamesen nicht ausstehen. Jetzt verkleidet er sie als Prostituierte und setzt sie uns ins Haus!!!! Aus dem Nirgendwo ist diese junge Frau so machtvoll und unerklärlich wie die Schweinepest in unser Leben getreten, und es scheint nichts zu geben, was wir dagegen unternehmen können. Aus dem Nirgendwo klopft diese Tretmine an unsere Tür, und von uns erwartet man, dass wir sie als unser Kind anerkennen!!!!???????

Clifford sagt gern, die Dunbar-Kinder hätten das Aussehen von der Mutter und den Verstand vom Vater geerbt. Das stimmt: Kevin, Jackelyn sehen alle so gut wie nur möglich aus! Und schlau? Naja, schlau genug, genauso schlau wie ihr Vater, ausgenommen unser ältester Sohn Kevin. Nachdem er in der Moody High School mit Auszeichnung bestanden hatte, ist Kevin jetzt im dritten Jahr auf dem Feeny State College, mit Chemotechnik als Wahlfach. Bisher hat er jedes Semester »sehr gut« gekriegt, und offenbar gibt es nichts, was ihn aufhalten kann!!! Noch anderthalb Jahre hat er vor sich, und jetzt bekommt er bereits massenhaft Stellenangebote!

Wir lieben dich, Kevin!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Manchmal machen wir ganz gern den Scherz, dass, als Gott den Dunbar-Kindern Verstand gegeben hat, Er Kevin ganz vorne in der Schlange sah, und zur Belohnung konnte Kevin gleich den ganzen Sack behalten!!! Was den anderen Kindern an Verstand fehlt, machen sie aber offenbar auf die eine oder andere Weise wieder wett. Sie haben Qualitäten und eine Persönlichkeit und machen sich ihr Bild von der Welt, ganz im Gegensatz zu Que Sanh, die zu glauben scheint, sie kann sich nur mit ihrem Aussehen durchs Leben mogeln!! Sie hat nicht mal den Ehrgeiz, den Gott einem Sperling geschenkt hat! Vor sechs Wochen tauchte sie in diesem Haus auf und beherrschte nur die Vokabeln »Daddy«, »glänzt« und »fünf Dollar jetzt«.

Was für ein Wortschatz!!!!!!!!!

Während ein einigermaßen aktiver Mensch sich vielleicht mal dahinterklemmt und ernsthaft die Sprache des Landes, das ihm seit neustem Gastrecht gewährt, erlernt, schien Que Sanh es damit überhaupt nicht eilig zu haben. Wenn man ihr eine simple Frage stellte, wie z. B.: »Warum gehst du nicht dahin zurück, wo du hergekommen bist?« berührte sie meine Hand und verfiel in krampfartigen vietnamesischen Kokolores —, als wäre ich der Außenseiter, von dem man erwarten kann, dass er ihre Sprache erlernt! Mehrmals besuchte uns dieser Lonnie Tipit, dieser »Dolmetscher«, dieser »Mann«, der Que Sanh bei ihrem ersten Besuch begleitet hatte. Mr. Tipit schien den Eindruck zu haben, dass die Tür der Dunbars ihm immer offen steht, sei es nun Tag oder Nacht. Er schaute einfach vorbei (meistens während der Abendbrotzeit), und zwischen zwei Portionen meiner guten Hausmannskost (vielen herzlichen Dank) pflegte er seine »Freundin« Que Sanh in aller Ruhe »auszuhorchen«. »Ich glaube nicht, dass sie genug Kontakt mit dem Leben ringsum bekommt«, sagte er. »Warum nehmt ihr sie nicht mit in die Stadt, zu kirchlichen Veranstaltungen und Volksfesten?« Na, er konnte so was leicht sagen! Das habe ich ihm auch gesagt, ich habe gesagt: »Nehmen Sie mal ein Mädchen, das obenrum nur BH mit Nackenband anhat, in den Konfirmationsunterricht mit. Nehmen Sie sie doch mit zu Kunst & Krempel zum Jahresausklang, wenn sie jeden Gegenstand klaut, der glänzt und ihr ins Auge sticht. Ich habe meine Lektion bereits gelernt.« Dann konferierte er mit Que Sanh auf Vietnamesisch, und wenn er lauschte, sah er mich so starr an, als wäre ich eine Hexe, von der er mal in Büchern gelesen hatte, die er aber ohne brodelnden Kessel und Besen nicht erkannte. Oh, ich kannte diesen Blick!

Lonnie Tipit ging so weit, uns vorzuschlagen, wir sollten ihn als Que Sanhs Englischlehrer einstellen, und zwar zu, stellt Euch das mal vor, siebzehn Dollar die Stunde!!!!!!!!!! Siebzehn Dollar pro Stunde, damit sie Lispeln und Zwitschern lernen kann und Mit-den-Händen-Flattern wie zwei kleine Vögel? NEIN, VIELEN DANK!!!!!!! Oh, ich habe Lonnie Tipit sofort durchschaut. Während er so tat, als sorge er sich um Que Sanh, war mir natürlich klar, dass er sich eigentlich für meinen Sohn Kyle interessierte. »Na, was macht die Arbeit in der Schule, Kyle? Arbeitest du schwer, oder arbeitest du schwerlich?« und »Sag mal, Kyle, was hältst du von deiner neuen Schwester? Ist sie ganz irre oder echt toll?«

Es war nicht schwierig, Lonnie Tipit zu durchschauen. Er wollte nur das Eine. »Wenn Sie mich nicht wollen, kann ich einen anderen Lehrer empfehlen«, sagte er. Jemanden wie wen? Jemanden wie ihn? Egal, wer der Englischlehrer war, es ist nun mal nicht meine Gewohnheit, Geld zum Fenster rauszuschmeißen. Und genau darauf, meine Freunde, wäre es hinausgelaufen. Warum engagiert man nicht einen teuren Privatlehrer, um den Eichhörnchen Französisch beizubringen! Jemand muss lernen wollen. Das weiß ich. In Ho-Chi-Minh-Stadt wurde Ihre Majestät offenbar behandelt wie eine Königin und sieht jetzt keinen Grund, warum sie sich ändern sollte!!!! Ihre Hoheit erhebt sich gegen Mittag, schlingt einen bis zwei Fische herunter (sie isst ausschließlich Fisch und Hühnerbrüstchen), lässt sich vor dem Schminkspiegel nieder und wartet, dass ihr Vater von der Arbeit nach Hause kommt. Wenn sie sein Auto in der Einfahrt hört, spitzt sie die Ohren und rast wie ein Spaniel an die Tür und keucht und macht und tut und wedelt vor Begeisterung mit dem Schwanz! Plötzlich ist sie bemüht und versucht sich in Konversation!! Na, ich weiß nicht, wie sie sich in Vietnam benehmen, aber in den Vereinigten Staaten ist es nicht üblich, dass eine halbangezogene Tochter ihrem Vater eine FünfDollar-Massage anbietet!!! Nachdem ich einen anstrengenden Tag damit verbracht habe, Que Sanh eine Liste einfachster Aufgaben zu übermitteln, stehe ich fassungslos dabei, wenn Que Sanh plötzlich angesichts ihres Vaters Englisch versteht.

»Daddy happy fünf Dollar glänzt jetzt okay?«

»Du Daddy warum weshalb warum Daddy lieb bleibt dumm.« Offensichtlich hat sie ein paar Wörter aus der »Sesamstraße« aufgeschnappt.

»Daddy lieb ohne Werbeunterbrechung Klassik pur glänzt.«

Sie hat mit Radiohören angefangen.

Que Sanh behandelt unseren jüngsten Sohn Kyle total gleichgültig, was wahrscheinlich ein Segen ist. Diese gesamte Episode ist für Kyle sehr schwierig, er ist jetzt fünfzehn und der einsame Künstler der Familie. Er ist gern allein, verbringt viele Stunden auf seinem Zimmer, wo er Räucherstäbchen abbrennt, Musik hört und aus Seife Gnome schnitzt. Kyle sieht sehr gut aus und ist sehr begabt, und wir freuen uns schon auf den Tag, an dem er sein Taschenmesser und das Stück Irischer Frühling aus der Hand legt und anfängt, an seiner Zukunft zu »schnitzen« und nicht an einem verschrumpelten Troll! Er ist in diesem sehr schwierigen Alter, aber wir beten, dass er daraus herauswächst und auf der Straße zum Erfolg in die Fußstapfen seines Bruders tritt, bevor es zu spät ist. Hoffentlich werden ihm die Katastrophen, die seine Schwester Jackelyn erlebt hat, die Augen öffnen, was die Gefahren der Drogen, das Desaster einer unüberlegten, voreiligen Ehe und das Herzeleid ungewollten Kindersegens betrifft!

Wir hatten unsere Tochter natürlich davor gewarnt, Timothy Speaks zu heiraten. Wir haben gewarnt, gedroht, belehrt, beraten, was nicht alles —, aber es hat nichts genützt, denn ein junges Mädchen, da kann das Beweismaterial so knüppeldick sein, wie es mag, sieht nur, was es sehen will. Die Ehe war schon schlimm genug, aber die Nachricht von ihrer Schwangerschaft traf ihren Vater und mich mit der Wucht eines Orkans.

Timothy Speaks als Vater unseres Enkelkinds? Wie war das möglich????

Timothy Speaks, der so viele Löcher in seine Ohren gepierct hatte, dass man ihm so das Ohrläppchen hätte abreißen können, ohne Anstrengung ratsch runter, wie man eine Briefmarke vom Bogen abtrennt.

Timothy Speaks, der leuchtende Flammen auf Rücken und Hals tätowiert hatte. Und Hals!!!

Wir haben Jacki gesagt: »Eines Tages wird er erwachsen werden und sich einen Job suchen müssen, und wenn es soweit ist, werden diese Personalchefs sich fragen, warum er einen Rollkragenpullover unter dem korrekten Straßenanzug trägt. Menschen mit tätowierten Hälsen bekleiden in aller Regel keine hochbezahlten Posten«, haben wir gesagt.

Sie rannte zu Timothy zurück und wiederholte ihm unsere Warnung ... und siehe da, zwei Tage später kreuzte sie auch noch mit tätowiertem Hals auf!!!!!! Sie planten sogar, ihr Baby tätowieren zu lassen!!!! Eine Tätowierung auf einem Kleinkind!!!!!!!!!!!!

Timothy Speaks hielt unsere Tochter in einem Netz des Wahnsinns gefangen, in dem sich die ganze Familie Dunbar zu verstricken drohte. Es war, als halte er sie unter einem perversen Bann und überzeuge sie, nach und nach, davon, dass sie das Leben all derer zerstören müsse, die um sie seien.

Die Jackelyn Dunbar-Speaks, die mit Timothy in dieser verwahrlosten »Bude« in der West Vericose Avenue zusammenlebte, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem schönen Mädchen, das in unseren Fotoalben abgebildet war. Die sensible und rücksichtsvolle Tochter, die wir einst gekannt hatten, wurde, unter seiner unnachgiebigen Anleitung, zu einem gehässigen, unzuverlässigen und schwangeren Gespenst, welches irgendwann einer tickenden Zeitbombe das Leben schenkte!!!!!

Wir hatten es natürlich kommen sehen. Das Kind, am 10. September unter Drogeneinfluss geboren, verbrachte die ersten zwei Monate seines Lebens auf der Intensivpflegestation im St. Joe's Hospital. (Was eine schöne Stange Geld gekostet hat, und ratet mal, wer die auftreiben musste?) Mit der konkreten Verantwortung der Vaterschaft konfrontiert, ließ Timothy Speaks kranke Frau und krankes Kind im Stich. Ganz plötzlich. Weg. Peng!

Überrascht?

Wir haben es kommen sehen und freuen uns, berichten zu können, dass wir, während ich dies niederschreibe, immer noch keine Ahnung haben, wo er ist oder was er vorhat. (Wir könnten natürlich raten, aber wozu?)

Wir alle haben die Studien gelesen und wissen, dass ein drogensüchtiges Baby eine schwere Schlacht vor sich hat, noch dazu bergauf, was eine normale Lebensführung angeht. Dieses Kind, dem der amtliche Name »Satan Speaks« gegeben wurde, würde es, das spürten wir, schwerer haben als die meisten. Wir hatten ja noch Glück, dass wir Jacki unter der Bedingung, dass das Kind hier bei uns bleibt, bis sie (falls je) vollverantwortlich für es sorgen kann, in einem schönen Therapiezentrum unterbringen konnten. Das Kind kam am10. November bei uns zu Hause an, und bald darauf, nach ihrer ersten Entzugsphase, gab Jacki uns die Erlaubnis, es »Don« zu nennen. Don, ein schöner, einfacher Name.

Durch die Namensänderung konnten wir unbefangener an das Baby herangehen, ohne sofort an seinen Vater, Timothy Speaks, dieses Schreckgespenst, denken zu müssen. Das war doch gleich ganz was andres, glaubt mir.

Zwar könnte ich ihn nicht als »normales« Baby beschreiben, aber es hat mir doch viel Freude gemacht, für den kleinen Don zu sorgen. Schrecklich penetrant, zu bösartigen Ausschlägen neigend, ein vierundzwanzig-Stunden-rund-um-die-Uhr-Schreier, war er unser kleiner Enkelsohn, und wir hatten ihn lieb. Zu wissen, dass er physisch zum Erwachsenen heranwachsen und dabei die Aufmerksamkeitsspanne einer gemeinen Stubenfliege beibehalten würde —, das hat uns in den Gefühlen, die wir für ihn hegten, nicht im mindesten beeinträchtigt.

Clifford scherzte manchmal, Don sei ein »Crack Baby«, weil er einen vom Hereinbrechen der Dämmerung bis Tagesanbruch weckt!

Dann ergriff ich die Gelegenheit, um zu erwähnen, dass Que Sanh ebenfalls so etwas wie ein »Crack Baby« war, so, wie sie zu jeder Tages- und Nachtstunde in unserem Haus herumwanderte, mit nichts am Leibe als Hot Pants und einem besseren BH. In den meisten Nächten hätte die Serviette, die sie immerhin bei den Mahlzeiten verwendete, mehr verhüllt als das, was sie normalerweise anhatte!!! Clifford schlug vor, dass ich ihr ein paar anständige Kleider und Jeans kaufe, und genau das habe ich versucht, oh, wie sehr ich es versucht habe! Ich saß neben ihr, blätterte die Kataloge durch und beobachtete, wie sie die Abbildungen der teuren Designerklamotten begrabschte. Ich war mit ihr bei Discount Plus und in Rudi's Resterampe und musste mit ansehen, wie sie angesichts der dort zu vernünftigen Preisen erhältlichen Kleidungsstücke das Näschen rümpfte. Ich weiß nicht, wie es bei Euch ist, aber in dieser Familie werden die Kinder für harte Arbeit belohnt. Nennt mich ruhig altmodisch, aber wer einen Pullover zu fünfzig Dollar will, muss beweisen, dass er ihn verdient! Es steht mir bis hier, aber ich sage es gern noch mal: »Eine Familie ist kein Wohltätigkeitsunternehmen.« Que Sanh wollte etwas ohne Gegenleistung, aber ich habe mein Portemonnaie zugeknöpft und gesagt, das schwerste Wort, das Eltern aussprechen können, ist »Nein!« Ich habe ihr mehrere Kleider genäht, mit meinen eigenen Händen, wunderschöne bodenlange Kleider aus Sackleinen, aber hat sie sie etwa angezogen? Natürlich nicht!!!

Sie machte weiter wie üblich und trabte in Unterwäsche durch das Haus! Als die Winterwinde zu wehen begannen, hüllte sie sich in eine Bettdecke, schön nah an den Kamin gekauert. Mit dieser »Das Mädchen mit den Streichhölzern«-Nummer könnte sie zwar am Broadway einen »Tony« gewinnen, aber nicht hier, auf den billigen Plätzen!

Sie machte immer so weiter, folgte Clifford auf den Fersen, bis Erntedank, als sie unserem Sohn Kevin vorgestellt wurde, der über Thanksgiving nach Hause gekommen war. Ein Blick auf Kevin, und Clifford war abgemeldet. »Clifford? Welcher Clifford?« Ein Blick auf unseren hübschen Sohn, und das »Fröstelnde Opfer« ließ die Bettdecke fallen und zeigte ihr wahres Gesicht. Sie erschien doch tatsächlich bei unserem Erntedank-Essen im Strippen-Bikini bei Tische!!!!!!!!!

»Nicht in meinem Haus«, sagt da die Verfasserin dieser Zeilen! Als ich verlangte, dass sie eins der Kleider anzieht, die ich für sie genäht habe, zog sie ihrer Preiselbeersauce einen Flunsch und tat, als hätte sie nicht verstanden. Clifford und Kevin versuchten, mich davon zu überzeugen, dass es in Vietnam bei Frauen Brauch ist, zum Erntedankfest in Badekleidung zu erscheinen, aber ich glaube trotzdem kein Wort. Seit wann feiern die Vietnamesen Erntedank? Für welche Ernten sollen diese Leute dankbar sein? Sie ruinierte unseren Festtagsschmaus mit ihrem blöden, koketten Gekicher. Erst saß sie neben Kevin, bis sie darauf bestand, sie habe auf ihrem Stuhl eine Spinne gesehen, und auf Kevins Schoß umzog!! »Du neue Party-Evergreens non-stop Spinne bleibt dumm glänzt fünf Dollar Big Bird.«

Diejenigen von Euch, die Kevin kennen, wissen, dass er, so genial er bei manchen Sachen ist, bei anderen Sachen furchtbar naiv sein kann. Groß und gutaussehend, mit einem Lächeln und einem guten Wort schnell bei der Hand, war Kevin schon für so manche Jägerin willkommenes Wildbret. Er ist so klug und doch zugleich so töricht: Das ist seine Gabe und seine Schwäche, eng miteinander verbunden und stets um Vorherrschaft ringend. Er hatte ständig unter einem gerüttelt Maß an Glücksritterinnen zu leiden, auf der Moody High wie am Feeny State. Immer ganz Gentleman, behandelte er die jungen Damen wie Glas, was, rückblickend, völlig angemessen war, denn jede einzelne war ja so leicht zu durchschauen. Als er fragte, ob er zum Erntedank eine Freundin mit nach Hause bringen kann, sagte ich, ich fände das keine gute Idee, weil wir ja ohnehin schon genug Stress hatten. Rückblickend wünschte ich mir, er hätte eine mitgebracht, da dies den himmelhohen Hoffnungen und Erwartungen seiner Halbschwester vielleicht einen kleinen Dämpfer versetzt hätte!!!!!!!!!!

»Ich finde große große Kartoffel Löffel Gabel morgen? Kevin glänzt groß Gesicht wie Hand von Huhn die Zeit es ist Sesamstraße jammy jam.«

Es gelang mir kaum, meine Mahlzeit herunterzuwürgen, und ich merkte, wie ich die Minuten zählte, bis Kevin, die größte Freude unseres Lebens, endlich den privaten Englischunterricht, den er Que Sanh auf ihrem Zimmer gab, abbrach, ins Auto stieg und zum Feeny State zurückfuhr.

Wie ich bereits erwähnte, war Kevin schon immer ein sehr fürsorglicher Mensch, jederzeit sofort zur Hand, wenn es irgendwo anzupacken oder einem Fremden behilflich zu sein gilt. Wie er nun so ist, kehrte er an die Uni zurück und begann dort offenbar, mit Que Sanh zu telefonieren, wobei er manchmal mit Hilfe eines vietnamesischen Studenten sprach, der als Dolmetscher fungierte. Er versuchte auf seine Weise, wenn auch ungeschickt, sie in ihrem neuen, hochentwickelten Heimatland willkommen zu heißen und ihr bei der Eingewöhnung zu helfen. Er war sogar sofort zur Hand und fuhr den ganzen weiten Weg nach Hause, um mit ihr auszugehen und sie in das Nachtleben einzuführen, wie es in diesem — ihrem neuen — Land üblich ist. Das ist der Kevin, wie wir ihn alle kennen und lieben, immer gern bereit, jemandem zu helfen, der weniger intelligent ist als er selbst, immer zu Verrenkungen bereit, um jemandem ein Lächeln abzuringen!

Unglücklicherweise interpretierte Que Sanh sein Interesse fälschlich als Erklärung romantisch gefärbter Anteilnahme. Sie gewöhnte sich an, vierundzwanzig Stunden am Tag das Telefon zu »bedienen«, indem sie es belauerte und ansah, als wäre es ein lebendiges Geschöpf. Wenn jemand (Gott behüte!) Clifford, Kyle oder mich sprechen wollte, legte sie einfach auf!!!! Was haltet Ihr von so einem Anrufbeantworter!!!!!!!!!!!!!!

Irgendwann erkannte ich, dass ihr Betragen an Wahnsinn grenzte, und redete ihr gut zu.

»ER IST NICHTS FÜR DICH«, schrie ich. (Man hat mich wegen meines Geschreis kritisiert, hat mir gesagt, es hat keinen echten Sinn, wenn man mit einem Ausländer spricht, aber immerhin erregt man damit ihre Aufmerksamkeit!) »ER IST MEIN SOHN AM COLLEGE. MEIN SOHN EINSERSTUDENT, NICHT FÜR DICH.«

Sie kauerte mit einem Lockenstab neben dem Telefon. Beim Klang meiner Stimme richtete sie ihre Aufmerksamkeit instinktiv woandershin.

»MEIN SOHN UND MEIN MANN SIND FÜR DICH OFF-LIMITS, HAST DU DAS VERSTANDEN? SIE SIND BEIDE AUF DIE EINE ODER ANDERE WEISE MIT DIR VERWANDT, UND DADURCH IST DAS FALSCH. AUTOMATISCH FALSCH. SCHLECHT, SCHLECHT, FALSCH! SOWOHL FALSCH ALS AUCH SCHLECHT FÜR DIE QUE SANH, MIT SOHN ODER MANN VON DER JOCELYN ZUSAMMENZUSEIN. SCHLECHT UND FALSCH. VERSTEHST DU, WAS ICH JETZT SAGE?«

Sie sah kurz auf und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der elektrischen Schnur.

Ich gab's auf. Que Sanh moralische Prinzipien zu erklären, war, als überprüfte man seine Steuererklärung (Standardformular 1040) mit einer Hauskatze! Sie versteht nur, was sie als verstehenswert erachtet. Sagt man das Wort »Shopping«, sitzt sie schneller, als man zwinkern kann, vorne rechts im Auto! Versucht man es mit einem komplizierteren Wort wie »fegen« oder »bügeln«, zuckt sie die Schultern und zieht sich auf ihr Zimmer zurück.

»STAUBSAUGEN«, sage ich zum Beispiel. »STAUBSAUGE DEN TEPPICH.«

Als Reaktion klimpert sie mit ihrem Armband oder betrachtet ihre Fingernägel.

Verzweifelt bestrebt, mich verständlich zu machen, hole ich dann den Staubsauger und demonstriere es.

»SIEH DIR JOCELYN AN. JOCELYN SAUGT DEN TEPPICH STAUB. LA LA LA!! STAUBSAUGEN MACHT SEHR VIEL SPASS. ES IST EIN VERGNÜGEN UND EIN GENUSS, MEIN HAUS MIT EINEM STAUBSAUGER ZU REINIGEN. LALA LA!!«

Ich versuchte es ihr als lohnende Übung zu vermitteln, aber als ich schließlich einen Funken Interesse in ihr wachgerufen zu haben glaubte, war ich mit Staubsaugen fertig. Wie ich schon sagte, versteht Que Sanh nur, was sie verstehen will. Rückblickend hatte ich wahrscheinlich keinen vernünftigen Grund, ihr zu glauben, als sie plötzlich einwilligte, im Haushalt zu helfen, aber an dem fraglichen Tag war ich mit meinem Latein am Ende.

Wir näherten uns Weihnachten, es war der 16. Dezember, als ich den unüberlegten Fehler machte, sie darum zu bitten, dass sie auf das Kind aufpasst, während ich Besorgungen mache. Mit einem pflegebedürftigen, verschrumpelten Neugeborenen, einem Sohn im schwierigen Alter und einer zweiundzwanzigjährigen halbnackten »Stieftochter« im Haus hatte ich ständig gut zu tun, achtundzwanzig Stunden am Tag!!!! Es war neun Tage vor Weihnachten, und beschäftigt, wie ich war, hatte ich noch kein einziges Geschenk gekauft. (Weihnachtsmann, wo bist du wenn man dich braucht????????)

An jenem frühen Nachmittag war Kyle in der Schule, Clifford war im Büro, und Que Sanh saß neben dem Telefon und puhlte mit bloßen Händen an einem Bratfisch vom Vortag herum.

»PASS AUF DAS BABY AUF«, sagte ich. »PASS AUF DON, DAS BABY, AUF, WÄHREND ICH WEG BIN.«

Sie betrachtete ihre Fettfinger.

»DU PASST AUF BABY DON AUF, WÄHREND JOCELYN SHOPPING GEHT, UM WEIHNACHTSGESCHENK FÜR DIE QUE SANH ZU BESORGEN, HO, HO!«

Bei der Erwähnung des Wortes "Shopping" straffte sie sich und schenkte mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Nachdem sie Radio gehört und ferngesehen hatte, verstand sie Weihnachten als Gelegenheit Geschenke zu empfangen, und hatte sich angewöhnt über Versandhauskatalogen zu hocken und ihre Wünsche mit den Worten »Ho, ho, ho« auszudrücken.

Ich entsinne mich noch deutlich meiner Wortwahl an jenem kalten und bewölkten Dezembernachmittag Ich verwendete nicht das Wort »Babysitten«, weil ich fürchtete, sie könnte mich beim Wort nehmen und buchstäblich auf dem Baby sitzen wollen. »PASS AUF DAS BABY AUF«, sagte ich, als wir die Treppe zum Schlafzimmer, das sie sich mit Don teilte, hinaufgingen. Que Sanh hatte in Kevins leer stehendem Zimmer geschlafen, bis ich sie, nach ihrem Erntedank-Einsatz, zu Don ins Kinderzimmer umquartierte.

»PASS AUF DAS BABY AUF«, wiederholte ich, als wir uns über das Kinderbettchen beugten und den plärrenden Säugling betrachteten. Ich hob ihn hoch und wiegte ihn sanft, während er in meinen Armen strampelte. »AUF BABY AUFPASSEN«, sagte ich, »WATCH BABY.«

»WATCH BABY«, erwiderte Que Sanh und streckte die Arme aus, um ihn entgegenzunehmen. »Watch Baby für Jocelyn holt Shopping spezial HO, HO, HO, Que Sanh frisch glänzt.«

»Genau«, sagte ich und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Wie töricht von mir, ehrlich zu glauben, dass sie endlich was kapierte! Ich war, damals, von ihrer Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit überzeugt. Ich war großmütig genug, den ganzen Ärger, mit dem sie unseren Haushalt heimgesucht hatte, Beiseitezuwischen und ihr eine zweite Chance zu geben! Das liegt jetzt alles hinter uns, sagte ich mir und sah ihr zu, wie sie das plärrende Kindlein wiegte.

Oh, was war ich doch für eine Närrin!!!!!!!!!!!!!

Als ich das Haus verließ und zum EKZ White Paw fuhr, verspürte ich ein Gefühl der Erleichterung wie schon lange nicht mehr. Seit Wochen war dies das erste Mal, dass ich mir ein Momentchen Alleinsein gönnte, und mit sechs Dunbar-Wunschzetteln, die mir ein Loch in die Tasche brannten, hatte ich fest vor, das Beste draus zu machen!!!

Ich kann nicht über jeden einzelnen Augenblick meines Nachmittags Rechenschaft ablegen. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, dass ich eines Tages genau dazu aufgefordert werden würde, da dies aber der Fall ist, werde ich berichten, woran ich mich erinnere. Ich kann mühelos bezeugen, dass ich am fraglichen Nachmittag des 16. Dezember das EKZ White Paw aufgesucht habe, wo ich eine kurze Zeitspanne in Der HosenLaden verbrachte, um ein Geschenk für Kyle zu suchen. Ich fand, was er sich gewünscht hatte, aber nicht in seiner Größe. Dann verließ ich Der HosenLaden und ging zu & , wo ich einen für meine Tochter Jacki kaufte. (Ich werde hier niemandem die Weihnachtsüberraschung ruinieren. Wozu auch?) Ich schaute kurz im RollkragenBar vorbei und sah mich bei Wachs-Max nach passenden Kerzen um. Im kaufte ich ein Geschenk für Clifford und stöberte, glaube ich, noch ein bisschen herum. Es sind fast hundert Läden im EKZ White Paw, und Ihr müsst mir schon vergeben, wenn ich nicht detailliert auflisten kann, wie viel Zeit ich in diesem oder jenem Laden verbracht habe. Ich kaufte ein, bis ich dachte, jetzt wird es aber langsam Zeit. Auf dem Heimweg hielt ich kurz beim SchlemmerMarkt und kaufte in der FrischeInsel noch ein paar Lebensmittel. Es wurde bereits dunkel, das muss so gegen halb fünf gewesen sein, als ich in die Einfahrt unseres Hauses am Tiffany Circle einbog. Ich holte meine Pakete aus dem Wagen und betrat mein Haus, wo mich sofort die unheimliche Stille überraschte. »Das kommt mir gar nicht geheuer vor«, erinnere ich mich zu mir selbst gesagt zu haben. Es war nur so ein Gefühl, das Gefühl einer Mutter, diese unerklärliche Sprache der Sinne. Ich legte meine Einkäufe ab und war bestürzt über den Lärm, den sie verursachten —, das trockne Rascheln von Papier auf Fußboden. Das Problem war, dass ich das Geräusch überhaupt hören konnte! Normalerweise hätten das chronische Geblöke von Baby Don und das unablässig plärrende Radio von Que Sanh alles übertönt.

Hier stimmt doch etwas nicht, sagte ich mir. Hier stimmt doch etwas auf geradezu entsetzliche Weise nicht.

Bevor ich nach Que Sanh rief oder das Baby suchte, rief ich instinktiv die Polizei an. Dann stand ich mucksmäuschenstill im Wohnzimmer und starrte auf meine Einkaufstüten, bis die Polizei (siebenundzwanzig Minuten später!!) kam.

Als sie den Streifenwagen in der Einfahrt hörte, hatte Que Sanh ihren Auftritt, sie paradierte mit einem Halb-Slip aus schwarzer Spitze und einem Halsband, das sie sich aus Kevins altem Chor-Talar geschneidert hatte, die Treppe herunter.

»WO IST DAS BABY?« fragte ich sie. »WO IST DON?«

Von der Polizei begleitet, gingen wir hinauf ins Kinderzimmer und sahen das leere Kinderbettchen.

»WO IST MEIN ENKEL DON? WAS HAST DU MIT DEM BABY GEMACHT?« Que Sanh sagte natürlich nichts. Es gehört zu ihrer Nummer, dass sie erst mal an ihrem Saum zupft und die Schüchterne markiert, wenn sie mit Fremden konfrontiert wird. Wir ließen sie da stehen, während die Polizisten und ich mit der Suche begannen. Wir kämmten das gesamte Haus durch, die Beamten und ich, bevor wir schließlich das hilflose Baby in der Waschküche fanden, warm, aber leblos in der Trockenschleuder.

Die Autopsie ergab später, dass Don auch den Waschgang durchgemacht hatte -, heiß waschen, kalt spülen. Er starb lange vor dem Schleudergang, was, glaube ich, der einzige Segen an dieser ganzen hässlichen Episode ist. Bis auf den heutigen Tag verfolgt mich das Bild vor meinem geistigen Auge, wie mein Enkelkind Opfer einer solchen Brutalität geworden ist. Die erbarmungslosen Schläge, die er während seiner fünfundvierzig Minuten in der Trockenschleuder einstecken musste, sind etwas, worüber ich lieber nicht nachdenke. Der Gedanke daran sucht mich heim wie ein Albtraum! Er kommt mir immer wieder in den Sinn, und dann fasse ich mich am Kopf, versuche verzweifelt, ihn zu vertreiben. Man wünscht sich doch für den einzigen Enkel, dass er herumrennt und spielt, einen College-Abschluss macht, heiratet und Erfolg hat und nicht... (seht Ihr, ich kann es nicht mal sagen!!!!!!)

Der Schock und der Schrecken, die auf Dons Tod folgten, sind etwas, was ich lieber nicht wiedergebe: Die Kinder anrufen, um ihnen zu berichten, sehen, wie die Leiche des Babys, so klein wie ein Laib Brot, in einen schweren Plastiksack mit Reißverschluss gesenkt wird –; diese Bildet haben nichts mit dem Frohsinn von Weihnachten zu schaffen, und ich hoffe, der Umstand, dass ich sie doch erwähne, wird Eure Laune zu dieser so ganz besonderen und funkelnden Zeit des Jahres nicht trüben.

Der Abend des 16. Dezember war eine sehr dunkle Stunde für die Familie Dunbar. Immerhin konnten wir, da Que Sanh sich in polizeilichem Gewahrsam befand, privat um ihn trauern und uns mit dem guten Glauben trösten, dass der Gerechtigkeit Genüge getan werden wird.

Wie töricht wirr doch waren!!!!!!!!!!!! Die bitteren Tränen waren immer noch nass auf unseren Wangen, als die Polizei in den Tiffany Circle zurückkehrte, wo sie die Verfasserin dieser Zeilen schonungslos zu verhören begann!!!!!!!!!!!! Mit Hilfe eines Dolmetschers hatte Que Sanh eine schlaflose Nacht auf dem Revier verbracht und eine Geschichte aus unsagbarem Lug und Trug zusammengezimmert! Zwar steht es mir nicht frei, zu ihrer genauen Zeugenaussage Stellung zu nehmen, aber erlaubt mir doch, meiner Enttäuschung darüber Ausdruck zu verleihen, dass irgendjemand (von der Polizei ganz zu schweigen!) auch nur daran denkt, Que Sanhs Worten mehr Glauben zu schenken als meinen. Wie hätte ich denn wohl ein hilfloses Kind in eine Waschmaschine stopfen können? Selbst wenn ich grausam genug wäre, so etwas zu tun, wann hätte ich die Zeit dafür finden sollen? Ich war einkaufen.

Ihr habt vielleicht gelesen, dass unsere sogenannte »Nachbarin« Cherise Clarmont-Shea zu Protokoll gegeben hat, sie habe gesehen, wie ich am 16. Dezember gegen 13:15h mein Haus verlassen, dann, zwanzig Minuten später, meinen Wagen angeblich ganz hinten an der Ecke Tiffany Circle/Papageorge Street geparkt hätte und dann, mit ihren Worten, über ihren Hinterhof »gekrochen« sei und mich dort in die Büsche »geschlagen« und mein Haus durch die Kellertür betreten hätte!!!!!! Cherise Clarmont-Shea versteht gewiss die Bedeutung der Wörter »gekrochen« und »geschlagen«, denn oft genug kam sie bei mir angekrochen, wenn ihr Mann sie mal wieder geschlagen hatte, mit geschwollenem und senffarbenem Gesicht! Sie ist so oft vermöbelt worden, dass sie von Glück sagen kann, wenn sie durch diese geschwollenen Augen überhaupt noch was sieht! Wenn ihr Make-up in irgendeiner Weise auf ihre Sehschärfe schließen lässt, kann man, glaube ich, getrost davon ausgehen, dass sie keine zwei Zoll weit kucken kann, und schon gar nicht kann sie die Identität von jemandem bezeugen, den sie beim Überqueren ihres Hinterhofs gesehen haben will. Sie nimmt Tabletten, das weiß jeder. Sie bettelt verzweifelt um Aufmerksamkeit, und unter anderen Umständen würde ich sie bemitleiden. Ich bin nicht vorzeitig nach Hause gekommen und über den ungepflegten Hinterhof der Sheas gekrochen, und selbst wenn, welches Motiv hätte ich denn wohl gehabt? Warum würde ich, wie gewisse Leute angedeutet haben, mein eigenes Enkelkind ermorden wollen? Das ist doch Wahnsinn, schlicht und einfach. Das erinnert mich an einen immer wiederkehrenden Albtraum, in dem ich verzweifelt versuche, mich gegen eine schwerbewaffnete Kasperpuppe zu wehren. Die groteske Puppe beschuldigt mich, Slogans auf ihr Auto gesprüht zu haben. So etwas habe ich selbstverständlich nie getan. Das ist doch Wahnsinn, das ist doch absurd, denke ich dann. »Das ergibt doch keinen Sinn«, sage ich, lasse die geladene Waffe in den kleinen Puppenhänden nicht aus den Augen und bete, dass dieser Albtraum bald vorüber ist. Cherise Clarmont-Shea hat nicht mehr Verstand als eine Kasperpuppe. Sie hat drei Namen! Und die anderen, die gegen mich ausgesagt haben, Chaz Staples und Vivian Taps, waren beide an einem Werktagnachmittag zu Hause und haben ratet mal, was! getrieben, während ihre jeweiligen Ehegatten stramm auf Arbeit waren. Was haben die denn zu verbergen? Ich finde, es ist von größter Wichtigkeit, auch mal die Quellen zu betrachten, aus denen so was fließt.

Diese Anschuldigungen sind lachhaft, und doch muss ich sie ernst nehmen, da mein Leben als solches von ihnen abhängen könnte! Nachdem sie sich die Tonbandaufzeichnung von Que Sanhs Verhör angehört hat, versteht die Familie Dunbar die volle Bedeutung der Wörter »Kontrolle«, »nachtragend«, »manipulieren«, »habgierig« und, im spirituellen Sinne, »hässlich«.

Nicht gerade Wörter, mit denen man in der Vorweihnachtszeit gern um sich wirft!!!!!!!!

Für den 27. Dezember wurde eine Anhörung angesetzt, und weil ich weiß, wie ausgegrenzt Ihr, unsere Freunde, Euch sonst fühlen würdet, habe ich am Schluss dieses Briefes Zeitpunkt und Adresse angegeben. Die Anhörung ist für Euch eine Gelegenheit, nachträglich etwas vom Geist der Weihnacht in Form von guten Taten zu vermitteln. Böte man mir die Gelegenheit, Euren Charakter zu verteidigen, würde ich keine Sekunde zögern, und ich weiß, dass Ihr mir gegenüber genauso empfindet. Diese von Herzen kommende mitmenschliche Sorge, dieses Verlangen, seinen Freunden und seiner Familie beizustehen, ist doch die eigentliche Grundlage dessen, was wir als das Christfest begehen, stimmt's?

Zwar wird Weihnachten dieses Jahr für die Dunbars von Verlust und Trauer gekennzeichnet sein, aber wir werden auch das überstehen und sehen gefasst dem Tag der Tage entgegen, dem 27. Dezember - 13:45 h, im Bezirksgericht von White Paw, Saal 412.

Ich werde Euch noch mal anrufen, um Euch an diese Information zu erinnern, und freue mich schon darauf, mit Euch über die festlichen Erträge Eurer Feiertage zu plaudern.

Bis dahin wünschen wir Euch und den Euren das Allerbeste.

Frohe Weihnachten.

Die Dunbars